NABU-Thema im Oktober: Der Kranich und das Virus

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Jetzt fliegen sie wieder!

Wie in jedem Jahr ist das Lahntal eine wichtige Flugroute für den Herbstzug der Kraniche. Bei gutem Flugwetter können täglich Tausende von Kranichen über uns Richtung Süden hinwegziehen; jedes Mal ein wundervolles Erlebnis. Doch in diesem Jahr sehen wir nicht nur freudig, sondern auch sorgenvoll zum Himmel – dazu unten mehr.

Kranich und Mensch

Die charismatischen Kraniche haben zu allen Zeiten die Menschen fasziniert und zahllose Mythen begründet: Im alten Ägypten galt der Kranich als Sonnenvogel und im alten China glaubte man, dass die Kraniche die Seelen der Verstorbenen in den Himmel leiten. Die Azteken stammten der Legende nach aus der Region Aztlán, was „nahe den Kranichen“ bedeutete. In der griechischen und römischen Mythologie war der Kranich das Symbol der Wachsamkeit und Klugheit und mehreren Göttern zugeordnet. Der keltische Gott Ogma soll die Schrift erfunden haben, nachdem er den Flug der Kraniche beobachtet hatte. Die Bezeichnung „Vogel des Glücks“ leitet sich in Schweden von der Ankunft des Kranichs als Vorzeichen für den Frühling her, in Japan nennt man ihn so wegen seiner Langlebigkeit – Kraniche können bis zu 40 Jahre alt werden. In der Heraldik ist der Kranich das Symbol der Vorsicht und der schlaflosen Wachsamkeit, in unseren alten Volksmärchen hat er stets positive Eigenschaften. In der deutschen Dichtung, so bei Schiller, Kleist, Busch, Brecht, steht der Kranich für das Erhabene in der Natur. Nie und nirgends war der vom Menschen geliebte und verehrte Kranich durch Jagd oder Vertreibung gefährdet. Die Hauptbedrohung für Kranichpopulationen geht und ging stets von der Zerstörung und Vergiftung ihrer Lebensräume aus. Doch konsequente Schutzbemühungen haben dazu geführt, dass sich die Populationen in den letzten Jahrzehnten erheblich erholen konnten und der Kranich heute als ungefährdet gelten darf.

Aussehen

Kommen wir nach den Mythen zu den biologischen Fakten: Der Graue Kranich (Grus grus) ist die einzige der weltweit 14 Kranicharten, die in Europa heimisch ist. Mit einer Stehhöhe von bis zu 130 cm und einem Gewicht von rund 6 kg ist der Kranich größer als unsere Störche und Reiher und mit einer Flügelspannweite von bis zu 200 cm erreicht er fast den Seeadler. Sein Gefieder ist überwiegend blaugrau, seine Schleppe, also die langen, schwarz zulaufenden Schirmfedern ragen buschig über den Bürzel hinaus. Kopf und Hals sind schwarz-weiß und auf dem Kopf befindet sich eine unbefiederte rote Kappe. Der Mantel ist während der Brutzeit rostbraun gefärbt. Das Flugbild ist unverwechselbar: Die breiten dunklen Flügel bilden mit den nach hinten gestreckten langen Beinen und dem ausgestreckten, leicht hängenden Hals ein Kreuz aus einem schmalen und einem dicken Balken.

© NABU / Thomas Krumenacker

Ruf und Tanz

Der trompetenhafte Ruf der Altvögel wird auf dem Zug von zarten, hellen Rufen der Jungvögel begleitet. An Brut- und Rastplätzen ist oft der Duettruf eines Kranichpaares zu hören, eine abwechselnd von Männchen und Weibchen abgestuft ausgestoßene Tonfolge.
Kraniche leben in monogamen, meist lebenslangen Paarbindungen. Vor allem im Frühling während der Balz führen sie den berühmten „Kranichtanz“ auf: Auf freien Flächen laufen und springen Männchen und Weibchen aufgerichtet und gebückt mit ausgebreiteten Flügeln umher und trompeten dazu, oft im Duett.

Fortpflanzung

Damit markiert das Paar auch sein mehrere Hektar großes Brutrevier. Kraniche bevorzugen dafür waldige Seen-, Sumpf- und Moorlandschaften in Nord- und Osteuropa sowie in Nordasien. Der Brutplatz des Bodenbrüters liegt im Revierzentrum in feuchtem Gelände. In das Nest aus Schilf und Binsen legt das Weibchen seine meist zwei Eier. Eine Besonderheit ist die Geburtshilfe der Kraniche: Sobald die Jungen von innen an die Schale picken, treten die Eltern mit ihren Krallen vorsichtig nach dem betroffenen Ei, um dem Küken den Schlupf zu erleichtern. Die Küken sind Nestflüchter und schon nach 10 Wochen so groß wie ihre Eltern.

© Knut Fischer

Nahrung

Kraniche sind Allesfresser: Ihre Nahrungspalette reicht von Kleinsäugern, Reptilien, Fischen, Fröschen, Schnecken, Würmern, Insekten und deren Larven über Mais- und Getreidekörner, Sonnenblumenkerne, Erbsen und Bohnen bis hin zu Erdnüssen, Oliven, Beeren, Eicheln, Gemüsearten, Kartoffeln und verschiedensten Pflanzenteilen.

Kranichzug

Diese Nahrungsflexibilität erleichtert ihnen die Futtersuche während ihrer Frühjahrs- und Herbstzüge. In ihnen schließen sich die sonst als Paare mit ihren Jungen lebenden Kraniche zu großen Trupps zusammen und zeigen ihre kräfteschonenden Keilformationen am Himmel. Deutschland liegt dabei im Zentrum der westeuropäischen Zugroute: Ab Mitte September fliegen Kraniche aus Norden und Osten ein und rasten zwischen Ostseeküste und Lausitz; inzwischen öfter im Binnenland als an den Küsten. Ein wichtiger Sammelpunkt ist die Talsperre Kelbra südlich des Harzes, wo im Herbst in der Regel mehr als 30.000 Kraniche rasten. Der Höhepunkt des Ost-West-Durchzugs liegt in der zweiten Oktober- und ersten Novemberhälfte und dauert mitunter bis in den Januar. Der Zug wird in südwestliche Richtungen fortgesetzt. Dabei vereinigen sich die nördlichen und östlichen Zugkontingente westlich des Rheins und fliegen über das Rhein-Main-Gebiet bis Frankreich, Spanien oder Marokko. Im Zuge des Klimawandels werden die Zugstrecken dabei immer kürzer.

Neue Gefahr

Eigentlich ist die Lage der Kraniche damit insgesamt gut; ihr Bestand hat in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen, so dass die Art nicht gefährdet ist. Doch in diesem Jahr zeigt sich eine bei uns neue Bedrohung: Offenbar infizieren sich derzeit ziehende Kraniche in sehr großer Zahl mit dem tödlichen Vogelgrippevirus H5N1.

Vogelgrippe H5N1

Vogelgrippe H5N1 ist eine anzeige- und bekämpfungspflichtige Tierseuche, hervorgerufen durch das Influenza-A-Virus H5N1. Der erste belegte Ausbruch ereignete sich 1959 in Schottland. Wissenschaftler gehen davon aus, dass H5N1 im Jahr 2020 in Asien eine neue, wesentlich aggressivere Form angenommen hat. Unter den Wildvögeln der Welt hat diese Variante seither zu einer beispiellosen Pest geführt, an der Millionen Tiere auf allen Kontinenten außer Australien verendet sind. Aber auch Säugetiere sind inzwischen betroffen: 2023 verursachte H5N1 in Südamerika ein Massensterben unter Seelöwen und See-Elefanten. Im selben Jahr war es in den USA auf Hausrinder übergesprungen, die die Infektion in der Regel überstanden. 2024 wurden in den USA erstmals Erkrankungsfälle bei Menschen beobachtet, die aber recht harmlos blieben. Gleichwohl gilt H5N1 seither als Zoonose.

Tote Vögel

Kranichen hingegen bringt H5N1 den sicheren Tod binnen dreier Wochen nach der Ansteckung. Ursächlich dafür ist vermutlich ihr Kontakt auf dem Vogelzug mit infizierten Wildenten und -gänsen, die die Krankheit etwas besser überstehen. An den dichtgedrängten Rastplätzen kann sich die Vogelgrippe dann über den Kot der Tiere rasend schnell ausbreiten. In den ostdeutschen Rastgebieten wurden mittlerweile Tausende verendeter Kraniche gefunden. Das erinnert an frühere Ausbrüche im Ausland; so waren 2023 in Ungarn rund 10.000 und 2021 in Israel etwa 8.000 Kraniche gestorben. Das Friedrich-Löffler-Institut (FLI), das Bundesforschungsinstitut für Tiergesundheit, stuft für Deutschland das Risiko für Wasservögel und Geflügelbestände seit Wochenbeginn als hoch ein. In Norddeutschland mussten bereits mehrere 10.000 Hühner, Enten, Puten und Gänse aus mit H5N1 infizierten Betrieben gekeult werden.

Gegenmaßnahmen

Was lässt sich tun? Leider wenig. Die Vogelgrippe unterliegt ähnlichen Zyklen wie die Influenza des Menschen und hat derzeit Hochsaison. Die Wildvogelbestände werden die Seuche halbwegs überstehen und ihre Verluste in günstigen Folgejahren wieder ausgleichen. Bedroht sind nun eher die Nutztierbestände der Geflügelbetriebe. Impfstoffe existieren zwar, können aber das Infektionsgeschehen eher verdecken und werden auch daher von der Weltgesundheitsorganisation nicht empfohlen. Mithin helfen derzeit nur Hygiene und Kontaktbeschränkungen. Eine Stallpflicht für Geflügel wird immer wahrscheinlicher. Wo immer möglich werden zudem die toten Kraniche geborgen und entfernt, damit sich andere Wildvögel sowie Aasfresser nicht infizieren. Vogelfreunden wird vom Besuch von Rastplätzen der Zugvögel derzeit dringend abgeraten, um vor allem die Viren nicht über die Schuhsohlen weiterzutragen, aber auch eine mögliche Erkrankung der Besucher zu vermeiden.

Abstand halten und melden!

Eine Bitte zum Schluss: In den letzten Tagen wurden immer öfter Beobachtungen von einzelnen Kranichen gemeldet, die sich auf Feldern, Wiesen und sogar in Gärten ohne Artgenossen aufhielten und mitunter matt und teilnahmslos wirkten. (Siehe dazu auch https://www.nabu-rhein-lahn.de/naturbeobachtung/kranichzug-19/.) Das ist ein für Zugvögel sehr ungewöhnliches Verhalten und kann auf eine Erkrankung hindeuten! Bitte widerstehen Sie dem verständlichen Wunsch, den armen Vögeln selbst zu Hilfe zu eilen. Halten Sie stattdessen von diesen Tieren Abstand und melden Sie Ihre Beobachtung unter genauer Ortsangabe bei den örtlichen Behörden; seien es Landratsamt, Bürgerbüro, Veterinäramt, Naturschutzbehörde oder Polizei. Unter günstigen Bedingungen ist die Notlage bis zum Frühjahrszug der Kraniche überwunden und wir können sie wieder uneingeschränkt als „Vögel des Glücks“ bei uns begrüßen.

© Knut Fischer
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